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Der Fluss des Lebens

m_schoettel@hotmail.com | September 18th-2021 | No Comments
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ist manchmal nur ein Bach. Ich wurde in den Abschnitt des Flusses hineingeboren, der kalt, klar und ungefähr 4m breit war. Der Ursprung des Baches war nochmal 10 km weiter westlich meines frühen Lebensmittelpunktes. Das Wasser hat mich immer angezogen. Ich ging oft runter zum Bach, einfach nur um das Wasser fließen zu sehen, seine Kraft zu spüren, und den Forellen zuzuschauen, wie sie trotz der Strömung still im Wasser standen. Unser Grundstück hatte nur etwa 40m direkten Zugang zum Bach, dieser Zugang war auch noch sehr unzugänglich. Die schönen und spannenden Zugänge waren in den Grundstücken von Nachbarn. Dort gab es ein Wehr, wo das Wasser zwei bis drei Meter in die Tiefe toste, dort war auch die tiefste Stelle mit den meisten Fischen. Andererseits auch kein Wunder, weil den Fischen wurde durch das Wehr, der Weg nach oben versperrt. Wohingegen sie nach unten schon konnten. Dort unten am Wehr waren wahrscheinlich die Fische, die ihre Verwandten weiter oben besuchen wollten, aber nicht hinkommen konnten. Hier war also der Tummelplatz der verzweifelten Fische. Manchmal ist das Leben eben eine Einbahn, und es gibt kein Zurück mehr. Ich konnte natürlich schon den Weg zurück bis zum Ursprung des Bachs gehen. Der Ort, wo der Bach entsprang, war voller Geschichten von giftigen Schlangen, Silberminen und Betretungsverboten. Da es dahin früher keine Wege gab, mussten wir zu Fuß da hinauf auf das Hochplateau, durch einen Wald mit uralten, flechtenumrankten Bäumen, bis die Bäume auf einmal aufhörten auf Höhe der Hubertushütte, die verlassen und verfallen war. Von dort ging der Grafensteig weiter durch Latschenkiefern und Almrauschbeete. Dieses Gebiet schien schon früher das Jagdrevier von Grafen gewesen zu sein, weil der Graf (sicher ohne seine Gräfin) dort mit dem Pferd hinaufgeritten sein soll. Was ein Graf ist, soll sich doch nicht anstrengen. Nun wir waren zu Fuß unterwegs, was zeigt, dass wir nicht von adeligem Blute waren, wir waren einfache Bauernkinder, die sich mit ihrem Vater (manchmal zusätzlich mit Mutter) da hinaufschwitzten. Die Anstrengung lohnte sich aber, sobald wir am Hochplateau angekommen waren. Dort waren kleine Lacken, in und auf denen Frösche, Wasserkäfer und Libellen miteinander tanzten. Es schwirrte und summte um mich herum. Dort gab es auch einen Stein, in dem eine versteinerte Echse zu sehen war und Steine, die Granate beherbergten. Warum wir dort hinauf durften? Weil mein Vater zusammen mit anderen Bauern einen Zaun bauten, um irgendwann später mal Kälber auf diese Alm zu treiben. Ursprünglich aber rauschte dieser Ort in majestätischer Stille. Wirkliche Stille war nur in diesem alten Wald vor der Baumgrenze, da war es so still, dass es mir schon unheimlich war. Die Bäume schienen lebendig, ich wollte ihnen nicht zu nahekommen. Selten bin ich weiter gekommen, als zu diesem Hochplateau, aber es gab einen Weg ganz hinauf an den Grat dieser Gebirgsformation.

Von unserem Bauernhof in die andere Richtung, südöstlich, fuhren wir meist mit dem Auto zum Ursprungsbauernhof meiner Mutter. Es gibt eine Straße, die in weiten Strecken direkt dem Flusslauf folgt bis nach Allerheiligen, wovon meine Mutter die Tochter ist. Von dort zweigt ein Weg ab hinauf zum Bergbauernhof. Da ist meine Mutter her. Der Hof liegt auf einem Berg auf der Sonnseite, wohingegen mein Ursprung die Schattseite war. Wenn du da hinauffährst, durch den Wald, dann kommt nach der zweiten großen Kehre eine Kurve, wo der Wald plötzlich verschwindet und du findest dich in einem Idyll wieder, wo die Schnecken größer und die Schlüsselblumen gelber waren als bei uns zu Hause in der Schattseite. Ich nennen diesen Ort „Angels Peak“, die nette Schwester von „Twin Peaks“. Alles war umgekehrt von uns: Der Stall war unterhalb des Wohnhauses, bei uns war er oberhalb. Der Wald war auch unterhalb und bei uns oben. Die Sonne ging spät auf und spät unter, wir hatten Glück, wenn die Sonne zu Mittag noch nicht untergegangen ist. Es gab eine Menge an Apfel- und Zwetschgenbäumen und der Zwetschgenschnaps denn sie hatten, war sehr, sehr stark. Oberhalb des Hofes gab es eine kleine Hauskapelle. Es gab einen Bernhardiner, der die ganze Zeit schlief. Ich fragte mich, wie es ist, von so einem schönen Ort wegziehen zu müssen. Aber ich sollte nicht zu viel fragen. Jedenfalls war die Verbindung zwischen meinem Vater und meiner Mutter ein Bach. Wenn meine Mutter zum Bach ging und ein paar Tränen darin verlor wusste sie, dass sie vom Fluss in ihre Heimat getragen werden. Wahrscheinlich hat sie’s nicht so romantisch gesehen, aber wer weiß…

Der Bach fließt nicht durch Allerheiligen, nur der Allerheiligenbach fließt von dort zu meinem Bach. Wenn man beim ehemaligen Gasthaus Hartleb von Pöls kommend rechts abbiegt, kommt man nach Passhammer. Wenn meine Mutter von dort gekommen wäre, hätte ich wahrscheinlich mit Jack Unterweger fangen gespielt und er wäre auf andere Gedanken gekommen. Aber ich war nicht dort und er hat das getan, was er tun musste. Als ich das erste Mal durch Passhammer fuhr, hatte ich einen Schock. Es war nicht der trostlos wirkende Ort, der mich schockierte, nein der Bach hatte sich verändert. Aus dem klar sprudelnden, lebendigem Wasser ist eine braune Kloake geworden, auf der Schaumkronen waberten, wie in einem Schaumbad. Ich musste wirklich zweimal hinschauen: war das der gleiche Fluss? Wie ich später erfuhr, war er es. Und er war tot wie er nur tot sein kann. Wo fand die Hinrichtung statt? Der erste Stich ins Bein fand in Möderbrugg in der „Pappenbude“ statt, einer Kartonfabrik, der Stich ins Herz in Pöls in der Papierfabrik. Pöls war auch das Grab so mancher meiner Verwandten, die an sonderbaren Krankheiten starben.

Worauf ich eigentlich hinaus will ist folgendes: du beginnst dein Leben wie ein Fluss, fließt in die Richtung, in die dein Fluss fließen will, bist klar, rein und unschuldig. Dann kommt jemand mit oder ohne böse Absicht und kippt dir seinen Müll drüber, du weißt dann nicht mehr, ist das sein Müll oder ist das deiner, der da in dir schwimmt und sich immer mehr und mehr mit deinem Wasser verbindet. Das Leben wird immer unklarer und verworrener und du bemerkst nicht einmal, dass du innerlich schon gestorben bist, du schlängelst dich immer noch deinem Lebensfluss entlang. Bis sich eines Tages dein Wasser wieder aufklärt, weil andere Verantwortung für ihren eigenen Müll übernommen haben.

Übrigens haben es die zwei Fabriken in der Zwischenzeit geschafft, ihren Müll so zu entsorgen, dass die Farbe des Wassers des Baches annähernd klar ist.

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